Digitale visuelle Lyrik
Programmierte Schriftlichkeit und kinetische Typografie
Dr. Wiebke Vorrath
Hauptanliegen des Postdoc-Projekts ist, eine Definition und Systematik visueller digitaler Lyrik der Gegenwart zu entwickeln. Wie ihre Wirkungs- und Funktionsweisen beschrieben sowie analysiert werden können und welche Formen digitaler Schriftlichkeit sich in ihr manifestieren, sind dabei die zentralen Fragen. Obgleich der Schwerpunkt des Projekts auf aktuellen visuellen Formen digitaler Lyrik liegt, wird das Genre in seinen literarhistorischen Zusammenhängen diskutiert. Gefragt wird danach, inwiefern digitale Poesie als Adaption und Weiterentwicklung avantgardistischer und neo-avantgardistischer Strömungen zu betrachten ist.
In der Tradition der literarischen Avantgarden, Automatismen im Sprach- und Schriftgebrauch auszustellen, wird in digitaler Lyrik die Funktionslogik computerbasierter Sprachtechnologien reflektiert. Somit wird auch der Frage nachgegangen, was hinter dem Interface geschieht: Inwiefern werden Arbeitsweisen von Programmiersprachen und Algorithmen in digitaler Lyrik sichtbar gemacht? In diesem Zusammenhang ist ferner die Ausgangsthese des Projekts zu sehen, wonach sich die Spielarten digitaler Poesie nicht nur durch lyrische Merkmale wie Sprach- und Medienreflexivität, Überstrukturiertheit und Differenzqualität auszeichnen. Vielmehr erscheinen die Möglichkeiten des Computers als Werkzeug für die Textproduktion und als Medium für Gedichte geradezu prädestiniert für die Implementierung lyrischer Form- und Funktionscharakteristika.
Die Erörterung der aufgeworfenen Fragen erfordert einen interdisziplinären Ansatz: Für die Entwicklung von Beschreibungs- und Analysekategorien für bewegte Schrift und Bild-Text-Beziehungen in visueller digitaler Lyrik werden medien- und literaturwissenschaftliche Beiträge zu Multimodalität, Intermedialität und Materialität von Schrift sowie zu Paratextualität in Literatur und neuen Medien herangezogen. Ebenso werden Ansätze aus den Digital Humanities, im Besonderen der Computerphilologie und den Critical Code Studies, zu Kinetik und dem bedeutungsgenerierenden Potential von Quellcodes berücksichtigt. Zur Untersuchung der Visualität verschiedener Schriftsysteme, etwa der Mischung von Computer- und ‚natürlicher‘ Sprache, wird zudem auf Beiträge aus der Mehrsprachigkeitsforschung zurückgegriffen. Des Weiteren gilt es zu prüfen, inwiefern sich Ansätze aus der Bildwissenschaft und den Visual Culture Studies zu Bild- und Symbolhaftigkeit (auch von Text) und aus der Performancetheorie zu Zeitlichkeit sowie Prozesshaftigkeit als anwendbar erweisen.