Stimme und Rhythmus
Zur sprechkünstlerischen Gestaltung von Live-Lyrik. Lesung, Slam und Rap
Trotz zum Teil ähnlicher Eigenschaften wie Dynamik, Rhythmik und Metrik wird zumeist ‚Musik gehört‘ und ‚Lyrik gelesen‘. Jedoch besitzt das bloße Vorlesen und darauf aufbauend auch das künstlerisch artikulierte Wort eine klangliche Dimension. Seit der Jahrtausendwende wird der literarische Formenkanon zunehmend durch mündliche Darbietungen von Lyrik erweitert, die live präsentiert und darauffolgend u.a. digital distribuiert werden. Damit rückt die akustisch-performative Dimension ins Zentrum eines bisher vornehmlich schriftlich betrachteten Genres. Um der Vielfältigkeit der mündlichen Darbietungsformen lyrischer Texte gerecht zu werden, berücksichtigt das Dissertationsvorhaben sowohl die klassische Lyriklesung als auch etwas weniger formale Spoken-Word-Formate sowie die musikalische Umsetzung von Lyrik in Form von Rap-Darbietungen. Diese Formen stehen aufgrund der unterschiedlichen Ausprägung stimmlich-performativer Extravaganz in einer graduellen Beziehung zueinander.
Mit wenigen Ausnahmen gilt für fast alle mündlichen Darbietungsformen von Lyrik: Es sind zumeist die Autor:innen und Künstler:innen selbst, welche ihre Arbeiten stimmlich-sprecherisch, rhythmisch sowie performativ gestalten und darbieten. Daraus ergeben sich grundlegende Fragen nach der Erzeugung eines Authentizitätsversprechens, welches gegenüber dem Publikum eingehalten werden soll. Hierfür dienen unterschiedliche Strategien, welche sich auf verschiedenen Ebenen (Verhalten, Bühnenbild, Vermarktung etc.) identifizieren lassen. Lyriklesungen, Spoken-Word-Formate und Rap-Darbietungen weisen individuelle, wiederkehrende Abläufe, Regelwerke sowie Moderationen auf und ihnen liegt eine spezifische Räumlichkeit, Zeitlichkeit sowie ein performativer Ablauf zugrunde. Inwiefern dieser Ritualcharakter bzw. die Rahmung ebenfalls einen Einfluss auf die Authentizität der Autor:innen und Künstler:innen nehmen, ist ein weiterer Untersuchungsaspekt der Dissertation.
Im Fokus des interdisziplinär angelegten Projekts stehen die Teilbereiche Stimme, Rhythmus und Performance, welche sich im Hinblick auf die mündliche Präsentation lyrischer Texte in einem Spannungsfeld zwischen sprechkünstlerischer Gestaltung (einstudiert) und Ereignis (vermeintlich spontan) bewegen. Damit einhergehend werden Rahmungsaspekte, Inszenierungsstrategien und mögliche Authentizitätseffekte betrachtet, um sowohl grundlegende Aussagen über die Gestaltung der mündlichen Präsentation von Lyrik zu ermöglichen als auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Aufbau (des Auftritts und der mündlichen Umsetzung) der Darbietungsformen aufzuzeigen.
Folglich ist das Ziel dieses Dissertationsvorhabens die Zusammenführung von Methoden und Theorien aus den Bereichen der Literatur, Medien-, Musik-, Sprech- und Theaterwissenschaft, um zum einen die sprechkünstlerische Analyse von Lyrik zu etablieren und zum anderen den sprechwissenschaftlichen Diskurs zur mündlichen Präsentation von Lyrik zu erweitern.