Poetry Debates III: „Wem gehört die Lyrik?“ – ein Rückblick
20. Dezember 2023
Foto: privat
Wem gehört die Lyrik? Mit dieser provokanten Frage blickten die Poetry Debates III kritisch auf die Zugänglichkeit von Lyrik, fragten nach der poetischen Qualität von Songtexten sowie von neuen populären Lyrikformaten wie dem Poetry Slam und reflektierten den Einfluss der Digitalisierung auf den Buchmarkt. Vier öffentliche Abendveranstaltungen brachten Dichter:innen, Performer:innen und Wissenschaftler:innen zusammen, um unterschiedliche Positionen zu diesen Themen zu debattieren. Konzipiert und kuratiert wurde die Reihe von Henrik Wehmeier in Zusammenarbeit mit Claudia Benthien.
Die erste Debate in der Katholischen Akademie Hamburg fragte nach den Charakteristika poetischer Sprache und ihrer Abgrenzung zur alltäglichen Kommunikation sowie ihrer Übersetzbarkeit in Leichte Sprache, um mehr Inklusion zu ermöglichen. Der Lyriker Steffen Popp las aus seinen Gedichtbänden Dickicht mit Reden und Augen und 118. Im Anschluss präsentierte die Literaturwissenschaftlerin und Psychologin Clara Cosima Wolff eine Übersetzung von Popps Gedicht „Fenster“ in Leichte Sprache und entfaltete grundsätzliche Überlegungen zur Übersetzbarkeit von Lyrik zum Beispiel in Gebärdensprache. Gemeinsam mit dem Publikum wurde diskutiert, wie Leichte Sprache auf die Polysemantik und den Assoziationsreichtum von Popps Gedichten reagieren kann. Und kritisch gefragt, welche Institutionen und Initiativen einen Zugang zu Lyrik vermitteln können, der nicht auf ein rein inhaltliches Verstehen abzielt.
Was unterscheidet und verbindet Songtexte und Gedichte? Diese Frage stand im Zentrum der zweiten Veranstaltung, die im Nachtasyl im Thalia Theater stattfand. Die Dichterin und Musikerin Lydia Daher reflektierte die Frage aus einer künstlerisch-praktischen Perspektive. Sie verwies etwa darauf, dass Songtexte leichter zugänglich sein müssen, da die Rezipierenden hier nicht frei über die Rezeptionsgeschwindigkeit bestimmen können und betonte die kollaborative Entstehung von Songtexten. Die enge Verbindung von Songtexten und ihrer Performance durch bestimmte Musiker:innen ist für den Literaturwissenschaftler Fabian Wolbring ein wichtiger Ansatzpunkt, um über die Differenzen zwischen Songtexten und Gedichten nachzudenken. Die gemeinsame Podiumsdiskussion widmete sich unter anderem der von Wolbring aufgeworfenen Frage, inwiefern die Musikalität von Songtexten zu einem widerstandslosen, unkritischen Konsum der Texte verleite könne und wie dagegen widerständige Lektüre- und Aneignungspraktiken aussehen können.
Die dritte Debate fragte im Literaturhaus Hamburg nach dem Ende (und der Zukunft) der Buchlyrik. Daniela Seel, Lyrikerin und Leiterin des kookbooks Verlags, thematisierte unter anderem die vielfältigen Krisen, der das gedruckte Buch in der Gegenwart ausgesetzt ist: die verfügbaren Druckereien würden weniger werden und seien oftmals ausgebucht, die Papierpreise seien stark angestiegen. Gleichzeitig spielen Lyrikbände zum Beispiel in der journalistischen Literaturkritik kaum eine Rolle. Die Lyrikerin Lütfiye Güzel gab einen Einblick in ihren Selbstverlag, unter dem Titel go-güzel-publishing vertreibt sie ihre Lyrikveröffentlichungen weitestgehend losgelöst von Verlagen und vom Buchhandel. So berichtete sie etwa, dass sie die Bände oftmals einfach im Copyshop drucken lässt, wodurch sich die zeitliche Verzögerung zwischen Produktion und Rezeption stark verkürze. In der gemeinsamen Podiumsdiskussion ging es um poetische Praktiken jenseits des Buches, um den Einfluss der Digitalisierung und auch um die Frage, inwiefern Lyriker:innen in der Gegenwart vermehrt zur Selbstvermarktung gezwungen sind.
Die vierte und letzte Veranstaltung widmete sich an der Universität Hamburg populären Lyrikformaten wie dem Poetry Slam und der Instapoetry. Der Literaturwissenschaftler Niels Penke zeigte in seinem Impulsvortrag auf, wie sich im Umfeld der Instapoetry neue Geschäftsmodelle entwickelt haben. Kostenpflichtige Workshops versprechen Erfolgsformeln zum schnellen Erfolg auf der Plattform, dubiose Verlage bieten Buchauskopplungen der online präsentierten Texte an. Damit ist für Penke ein wichtiger Aspekt der Instapoetry tangiert: Die Publikation der Gedichte auf Instagram ist in der Regel nicht vergütet, es ist also zum Beispiel das traditionelle Buchformat notwendig, um Einkommen zu generieren. David Friedrich präsentierte in seinen Slam Poems einen gleichfalls kritischen Blick auf die Poetry Slam Szene. Im Text “Den Slam kenne ich schon” porträtierte er den Poetry Slam zwischen humoristischen Eskapismus und gesellschaftskritischen Texten. Dieses gesellschaftskritische Potential des Poetry Slams verdeutlichte er mit seinem Slam Poem “Echt” auf, das einen kritischen Blick auf die Digitalisierung wirft. Und auch die Podiumsdiskussion thematisierte die Vor- und Nachteile etwa der interaktiven Dimension dieser populären Formate und reflektierte ihre historische Entwicklung.
Links zu den Aufzeichnungen der Veranstaltungen finden sich in der Rubrik Audio- und Videomaterial auf dieser Website.
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Die nächste Reihe der Poetry Debates wird im Herbst 2024 stattfinden; erneut an der Universität Hamburg und an weiteren Veranstaltungsorten in der Stadt. Alle Informationen dazu finden sich rechtzeitig auf dieser Website.