Poetry Debates I „Die Politik der Poesie“ – ein Rückblick
21. Dezember 2021

Foto: privat
Die erste Reihe der „Poetry Debates“ hat sich im Herbst unter der Überschrift „Die Politik der Poesie“ in vier öffentlichen Abendveranstaltungen der Auseinandersetzung mit kulturellen und gesellschaftspolitischen Fragen im Medium der zeitgenössischen Lyrik gewidmet. Wissenschaftler:innen und Poet:innen haben in Vorträgen, Lesungen und Podiumsdiskussionen ihre Ansichten und Arbeiten zur Diskussion gestellt. Konzipiert und kuratiert wurde die Reihe von Claudia Benthien.
Aufgrund der Corona-Pandemie war der Besuch der vier Veranstaltungen vor Ort teilweise eingeschränkt, dafür gab es bei allen einen Live-Stream. Außerdem wurden die Events aufgezeichnet. Die Links zu den auf dem Portal Lecture2Go der Universität Hamburg platzierten Videos finden sich nun in der Rubrik „Audio- und Videomaterial“ der Projektwebsite.
Die erste Veranstaltung hat sich mit Fragen der Öffentlichkeit und des urbanen Raums befasst, die durch poetische Installationen thematisiert werden. Claudia Benthien (Hamburg) und Norbert Gestring (Oldenburg) haben aus ihrer literaturwissenschaftlich-stadtsoziologischen Forschung zum Thema berichtet und internationale Poetry-Projekte vorgestellt, in denen Gedichte auf Häuserfassaden und Reklametafeln gezeigt, auf Zetteln an Bäume gepostet oder über digitale Laufbänder präsentiert werden. Die Dichterin Ulrike Almut Sandig (Berlin) gab Einblicke in ihre poetischen Interventionen „augenpost“ im Stadtraum von Leipzig und #audiblepoetry in Metropolen Indiens. In der Podiumsdiskussion ging es um den politischen Slogan vom ‚Recht auf Stadt‘, um die Provokation durch poetisch-subjektive Sprechweisen im urbanen Raum, etwa bei Jenny Holzer, und um das Verhältnis von Werbung und Poesie.
In das Thema der zweiten Debate – gesellschaftspolitischer Aktivismus in der Social-Media-Poetry – führte Magdalena Korecka aus dem PoetryDA-Team ein. Zu Gast waren zwei auf Instagram aktive Dichterinnen: Nikita Gill (Hampshire) präsentierte englischsprachige Gedichte, in denen sie u.a. die mythologische Frauenfigur Medusa feministisch deutet und sexuelle Gewalt gegen Frauen kritisiert. Elena Calliopa (München) stellte ihre feministischen, inklusiven und anti-rassistischen Poems vor, die auch tabuisierte Themen wie weibliche Essstörungen aufgreifen. Korecka verdeutlichte den Unterschied zwischen aktivistischen und mikropolitischen Posts. Ästhetik, Stilistik, Komplexität und Reichweite von Gedichten auf sozialen Medien wurden kritisch diskutiert. Dabei ging es auch um die Frage, warum in der Social-Media-Lyrik einerseits Frauen, andererseits Minderheiten besonders aktiv sind.
Den Einführungsvortrag zum dritten Event ‚Eco-Criticism in der Lyrik‘ hielt Antje Schmidt (Hamburg). Während sie argumentierte, dass Lyrik im Anthropozän oft den Gestus einer melancholischen Klage über verlorene Spezies oder die Einheit mit der Natur vornimmt, stellte Hans Kristian Rustad (Oslo) heraus, wie Lyrik „mögliche Zukünfte“ angesichts des Klimawandels darstellt, um Kausalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu negieren. Der Poet, Künstler und Musiker Johannes Heldén (Stockholm) verdeutlichte anhand seiner multimedialen Werke Evolution, Encyclopedia und Astroecology seinen Zugang zum Thema: Er stelle sich vor, dass seine Poesie „von der Zukunft in die Vergangenheit reist“, um von Kommendem zu berichten. Diskutiert wurde u.a. wie Lyrik wegen ihres experimentellen Charakters das Ende des Planeten Erde, wie wir ihn kennen, erfahrbar machen kann.
Am Beispiel von Belarus hat sich die vierte Debate mit Gedichten als Interventionen in gesellschaftlichen Krisen befasst. Alessandro Achilli (Cagliari) verwies auf soziale Medien als Räume künstlerisch-politischer Artikulation und zeigte, dass sich der Protest belarussischer Dichter:innen auch an Europa richtet, das in seiner Passivität angeklagt wird. Die Dichterin Uljana Wolf (Berlin/New York) erläuterte die Bedeutung poetischer Sprache, um Identität, Nationalität und Territorialität kritisch zu verhandeln und Zustände ‚ohne Muttersprache‘ abzubilden. Die derzeit im Exil lebende Dichterin Julia Cimafiejeva (Minsk/Graz) trug wichtige Gedichte zum Thema vor. Eindringlich verwies sie auf die katastrophale Lage in Belarus, speziell in den Gefängnissen. In der Diskussion ging es auch um die Gebrauchsfunktion von Lyrik als Mittel des Trostes sowie des Ausdrucks von innerer Stärke und Widerstand.
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Die nächste Reihe der Poetry Debates wird im Herbst 2022 stattfinden, erneut an der Universität Hamburg und an weiteren Veranstaltungsorten in der Stadt. Ihr Thema wird „Poesie und Technologie / Poetry and Technology“ sein. Informationen dazu finden sich rechtzeitig auf dieser Website.