Digitalisierung und Entnetzung in der Buchlyrik
Erst durch die Digitalisierung wurde das Buch zu einem ‚analogen Medium‘. Insofern aber immer mehr Lebensbereiche eine datenbasierte Repräsentation erfahren und die Nutzung von Informationstechnologie heute ubiquitär ist, erweisen sich Kategorien wie ‚online/offline‘ oder ‚digital/analog‘ als fundamental miteinander verschränkt, was im Begriff der ‚Postdigitalität‘ gefasst wird.
Lyriker:innen entscheiden sich heute oft bewusst für ein gedrucktes Werk, anstelle von – oder als Ergänzung zu – digitalen bzw. szenischen Präsentationsformen. Im Zentrum der Untersuchung steht aktuelle deutschsprachige ‚Buchlyrik‘. Sie umfasst zwei von Bajohr/Gilbert definierte Grundtypen: zum einen das „digitale Inhaltsparadigma“, d.h. das Einfließen von Diskursen oder Realien der digitalen Welt in lyrische Texte, als Strategie der „Gegenwartsvergegenwärtigung“ (Schumacher). Dies kann eine Reflexion über die kommunikative Medialität und Materialität poetischer Sprache beinhalten, wenn sich die Buchlyrik etwa dem Stil der ‚Plattformpoesie‘ anpasst oder – im anderen Extrem – Hardware, Technologie und kryptische Wissensordnungen digitaler Infrastrukturen offenlegt.
Zum anderen kommt mit in Büchern gedruckten Gedichten, für deren Genese Computer, Algorithmen sowie die automatisierte Verarbeitung von Textkorpora als Schreibmethode eingesetzt wurden, das „digitalontologische Paradigma“ in den Blick. Ein treffendes Beispiel für diese sekundäre „Analogisierung“ (Stäheli) sind die Bücher Poetisch denken I-IV des Textkollektivs 0x0a, in denen von einer KI generierte Lyrik abgedruckt ist, die mit einem Korpus aus Gedichten von vier bekannten zeitgenössischen Lyriker:innen trainiert wurde. Solche konzeptuelle Literatur ist für die Lyrikforschung interessant, weil sie nicht nur Autorschaft befragt, sondern auch eine potenzierte Vernetzung beinhaltet, beruht deren automatisierte Komposition doch auf sogenannten „konnektionistischen generativen Modellen“ (Bajohr), d.h. berechneten Häufigkeiten, Näheverhältnissen usw.
Während der Habitus des ‚Networking‘ in der Frühphase des Web 2.0 positiv bewertet wurde, gilt die als ‚Hyperkonnektivität‘ gesteigerte Form – die Verfügbarkeit unabhängig von Zeit und Ort – heute als problematisch, mit Folgen wie net fatigue und digital burnout. Als Gegenbegriff hat sich im sozialwissenschaftlichen Diskurs das Konzept der ‚Entnetzung‘ etabliert. Zu den Entnetzungsdiskursen gehören der nostalgische Impuls, die Welt vor der Übervernetzung zu idealisieren, die „Sehnsucht nach ‚Inseln‘ der Entnetzung“ sowie die „Hoffnung auf die Wiedereinsetzung echter sozialer Beziehungen“, so Stäheli.
Hier ist zu fragen, inwiefern zeitgenössische Gedichte an solchen analogen Versprechen partizipieren, etwa indem sie Kommunikationsstrukturen der Nähe etablieren. Sie können aber auch mit poetischen Verfahren Netzwerke imitieren – als rhizomatischer, vers- und strophenübergreifender Sprachfluss –, um so „Digitalisierungskritik“ (Stubenrauch) zu üben. An dieser Stelle kommt auch Lyriktheorie in den Blick, etwa eine Aktualisierung des Konzepts poetischer „Überstrukturiertheit“ (Link), wonach Gedichte „komplexe, vertikal-horizontal verschachtelte, polymorphe Beziehungsgefüge“ (Stahl) sind, also in sich selbst bereits hyperkonnektive Netzwerke, die sich durch Selbstreferentialität von der digitalen Lebenswelt zu entnetzen suchen. Andere zeitgenössische Gedichte vernetzen sich durch ihre Schreibweise hingegen ganz bewusst mit dem Digitalen, mit dem Resultat, dass Leser:innen aufgerufene Intertexte und Wissensbestände (digital) recherchieren müssen.