Interart-Konzepte und Mehrsinnlichkeit
Elemente des Barriereabbaus in zeitgenössischen Lyrikformaten
Diese Doktorarbeit untersucht Strategien des Barriereabbaus in zeitgenössischer Lyrik. Der Begriff ‚Barriere‘ wird als fehlende Zugänglichkeit in seiner Mehrdeutigkeit beleuchtet: als Grenze zwischen sogenannter ‚Hoch‘- und ‚Populärkultur', als wahrnehmungsbezogene Barriere, sowie als Grenze zwischen Kunstgattungen. Barriereabbau soll mittels Strategien der Zugänglichkeit (accessibility) erzielt werden, welche in dieser Arbeit entlang der kritisch zu reflektierenden Kategorien ‚Hoch-/Populärkultur‘, sowie mit Hilfe der Konzepte von Mehrsinnlichkeit und Interart analysiert werden. Mehrsinnlichkeit bezieht sich auf die Wahrnehmung von Gedichten, die über das Visuelle hinausgehen, Interart bezieht sich auf Gedichte, die über das rein Literarische hinausgehen und andere Kunstgattungen integrieren.
Zeitgenössische Lyrik situiert sich zwischen den Extremen der leichten Konsumierbarkeit und der Hermetik. Formate wie Social Media Poetry oder Poetry Slams sind leicht zugänglich und sprechen ein breiteres Publikum an, während gleichzeitig konventionelle ‚Wasserglaslesungen‘ und Lyriktreffen in kleinen Kreisen stattfinden, denen bisweilen der Vorwurf der Unzugänglichkeit entgegengebracht wird. Um Prozesse der Sichtbarmachung und kritischen Hinterfragung anzustoßen, stehen folgende Forschungsfragen im Zentrum: 1. Inwiefern existieren Barrieren in zeitgenössischer Lyrik und ihren Veranstaltungs- und Präsentationsformaten? 2. Welche Lyrikformate führen zu einem aktiven Barriereabbau und erhöhter Zugänglichkeit und sprechen dadurch eine erweiterte Zielgruppe an? 3. Was sind künstlerische Verfahren, die zur Überwindung von Barrieren eingesetzt werden, und durch welche Strategien tragen performative audioliterarische Formate (u.a. im digitalen Raum) zur erhöhten Zugänglichkeit bei?
Ein erster Teil der Untersuchung ist partizipativ-explorativ angelegt und besteht in einer Kurzumfrage zum Erfassen von Barrieren in zeitgenössischer Lyrik sowie qualitativen Interviews mit Expert:innen, beides zusammen wird in einem ‚Barrierenkatalog‘ resultieren. Ein zweiter, umfänglicher Teil der Arbeit analysiert dann unter Bezugnahme auf den Katalog Fallbeispiele zeitgenössischer Lyrik hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit. Sie werden heuristisch in zwei Kategorien gegliedert: Kulturbarrieren und Sinnesbarrieren. Begonnen mit Kulturbarrieren werden Deaf Slams, Gedichte von Künstlicher Intelligenz, Social-Media-Poetry, Print on Demand Poetry, kollektive und partizipative Lyrikprojekte, Gedichte in leichter Sprache sowie Lyrikvermittlungsformate untersucht. Mittels des Konzepts der Mehrsinnlichkeit werden sodann Gebärdensprachenpoesie, Braille-Gedichte, Untertitelpoesie, und mittels des Interart-Konzepts werden audioliterarische Formate (z.B. Magazine für gesprochene Literatur), Text-Bild-Performances, Gedichtinstallationen, Poesiefilme und intersemiotische Übersetzungen exemplarisch in den Blick genommen.
Barrieren und Zugänglichkeit sind Begriffe der Disability Studies, die bislang nicht auf zeitgenössische Lyrik angewendet wurden. Die interdisziplinäre Herangehensweise dieser Arbeit, die Ansätze aus Psychologie, Literatur- und Kulturwissenschaft, Disability Studies, sowie Medien- und Theaterwissenschaft vereint, soll einen Beitrag zum kritischen Selbstverständnis des Lyrikbetriebs sowie zur Erklärung der Popularität bestimmter Lyrikformate leisten.