Formatierungen des Flow
Die mediale Zirkulation zeitgenössischer Lyrik
Anknüpfend an aktuelle medienwissenschaftliche Diskussionen und interdisziplinäre literaturwissenschaftliche Theorien untersucht das Forschungsprojekt die mediale Zirkulation lyrischer Werke. Eine besondere Rolle spielen hierbei Plattformen wie Facebook, Instagram oder YouTube, auf denen Lyrik, aber auch ihre Aufführung (Lesung, Live-Performance etc.) präsentiert, dokumentiert und distribuiert wird. Diese medialen Bewegungen sind kein neues Phänomen, denn Lyrik überschreitet nach Mike Chasar leichter mediale Grenzen als andere literarische Formen, was er auf Gattungsspezifika wie Kürze und Strophenstruktur zurückführt. Im Zuge der Digitalisierung zeigen sich jedoch starke Veränderungen, wenn einerseits soziale Netzwerke zum Ersterscheinungsort werden und deren Interfaces wichtig für die Rezeption von Gedichten sind. Und wenn andererseits diese Publikationsformate auch mit neuen Akteur:innen und nicht-menschlichen Einflussfaktoren (wie z.B. Algorithmen) einhergehen, die gegenüber traditionellen Instanzen wie Verlagen und Feuilleton an Einfluss gewinnen.
Die Begriffe des Formats und des Interfaces dienen als methodische Ansatzpunkte, um diese neuen medialen Konstellationen gegenwärtiger Lyrik zu erforschen. Unter ‚Format‘ werden zumeist medienindustrielle Absprachen und Standardisierungen verstanden, die die Distribution von Werken effizient gestalten sollen. Diese Formatierungen umfassen nach Jonathan Sterne jedoch auch eine Modellierung der Rezipierenden. Mehr noch gilt es also zu fragen, welchen Einfluss Formatierungen auf die ästhetische Wahrnehmung von Gedichten und ihrer Performances haben: Was bedeuten (Um-)Codierungen und Komprimierungen für ein Genre wie das der Lyrik, das stark mit der Materialität von geschriebener und gesprochener Sprache arbeitet und bei dessen Performances die Körperlichkeit insbesondere der Stimme eine wichtige Rolle spielt? Kommt es zu Glättungen und Anpassungen (etwa der Nachbearbeitung/Entfernung von akustischen Schwankungen) – oder zeigen sich materielle und körperliche Widerständigkeiten? Kommen den Störungen gar spezifische Funktionen, insbesondere Authentizitätseffekte, zu? In Kontrast zu traditionellen Auswahlprozessen, etwa durch Verlage, verhindern technische Faktoren und neue Akteure den ‚Flow‘ von Gedichten, d.h. die (digitale) Verbreitung.
Der Begriff des Interfaces wiederum bietet die Möglichkeit, nach der je spezifischen Situierung von Gedichten zu fragen. Diese sind in den Sozialen Medien, aber etwa auch auf E-Book-Readern, in Oberflächen eingebunden, die eigenen Designlogiken folgen. Damit ergibt sich ein spannungsreiches Verhältnis zur ästhetischen (Oberflächen-)Gestaltung lyrischer Texte, arbeiten diese doch oft prominent mit Layout, Typographie etc. und kehren deren Materialität selbstreferentiell hervor. Dieses Widerspiel gilt es somit in Bezug auf die ästhetische Wahrnehmung von Gedichten zu untersuchen, wenn etwa der immersive ‚Flow‘ der Interfaces auf lyrische Verfahren trifft. Tangiert sind damit Fragen nach der Relationierung von Text und Rezipierenden; so charakterisiert beispielsweise Timo Kaerlein Smartphones als Nahkörpertechnologie. Intimität und immediacy sind zugleich wichtige Topoi des Lyrikdiskurses. Die Untersuchung der Mediatisierungen von Gedichttexten und -performances durch Autor:innen und User:innen ermöglicht somit Einblicke in die Relation von Intimität, Subjektivität und Medialität zeitgenössischer Lyrik.