Raum Visualisieren
Selbst-Positionierung der jüdischen dritten Generation in Gedichten und Poesiefilmen
Aufbauend auf bestehender Forschung zu jüdischer Autorschaft der dritten Generation erweitert diese Dissertation die literaturwissenschaftliche Erinnerungsforschung, indem sie visuelle Ausdrucksformen der Selbstpositionierung in jüdischen Gedichten und Poesiefilmen analysiert. Untersucht wird dabei, wie Lyriker:innen wie Hanna Rajs, Gabriel Itkes-Sznap, Yevgeniy Breyger und Max Czollek ebenso wie Filmemacher:innen wie Katia Lom, Yulia Ruditskaya, Evgenia Gostrer und Daniella Schnitzer den Raum sowie die räumliche Situiertheit des lyrischen Subjekts in verschiedenen Sprachen und kulturellen Kontexten (motivisch) visualisieren.
Das Projekt ist an der Schnittstelle der literaturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung und den Visual Culture Studies bzw. Bildwissenschaften (unter Einbezug von filmwissenschaftlichen Ansätzen) verortet. Es widmet sich der Analyse von wiederkehrenden visuellen oder visualisierten Motiven, die sich auf drei Ebenen auf den Raum beziehen: auf die private Sphäre (z. B. ‚das Haus‘/‚Zuhause‘), die öffentliche Sphäre (u. a. Gesellschaft, Natur, soziale Medien) und einen dritten Raum, der sich zwischen dem Privaten und Öffentlichen befindet (hier werden besonders ‚Glaubensräume‘ wie z. B. Synagogen berücksichtigt).
Methodisch werden die Gedichte und Poesiefilme durch close readings und/oder ‚close watchings‘ analysiert, wobei die sprachlich oder bildlich ausgedrückte Symbolik untersucht wird. Zwar liegt das Hauptaugenmerk auf der thematischen Ebene von Gedichten und Poesiefilmen, aber durch die Motivstudie werden auch die vielfältigen formalen Ebenen von Lyrik und Poesiefilmen aufgezeigt und dabei ein besonderes Augenmerk auf das Zusammenspiel von Bild und Wort gelegt: Wie verbinden sich oder kollidieren images (Bilder im metaphorischen Sinne) mit Wörtern, und im Falle des Poesiefilms auch pictures (Bilder als tatsächliche visuelle Elemente, etwa des Bewegtbildes)?
Eine der zentralen Fragen des Projekts ist, inwiefern jüdische Kulturproduktion als eine Form und Praxis der Desintegration oder des Widerstands zeitgenössischer Lyriker:innen und Filmemacher:innen gegen Stereotypisierung und Antisemitismus verstanden werden kann, indem sie jüdische lyrische Perspektiven in den Mittelpunkt stellen: ihre Verhandlungen von Grenzüberschreitungen verschiedener Art, der Identität, der nationalen und sprachlichen Zugehörigkeit, aber auch des Verhältnisses zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Auswahlkriterien für die lyrischen Werke sind, dass die Autor:innen der jüdischen dritten Generation angehören und in Europa geboren wurden oder arbeiten. Die Studie zielt darauf ab, räumliche Motive zu erforschen, die sich nicht nur explizit auf die Shoah oder ihre Erinnerung beziehen. Vielmehr wird die Beziehung zwischen Visualisierungen des ‚Raumes‘ und materiellen Objekten innerhalb dieser Räume sowie deren Bedeutung für die Konstruktion und Verortung des ‚Selbst‘ erforscht. Dabei werden zudem Themen wie familiäre Erinnerung, Zugehörigkeit und Entfremdung zwischen den Generationen, Exil und Heimkehr sowie das Erzählte und Unausgesprochene einbezogen.
Zuletzt ist zu betonen, dass sich die Dissertation zwar mit Darstellungen und lyrischen Konstruktionen jüdischer Lyriker:innen und Filmemacher:innen beschäftigt, hierbei allerdings nicht den Anspruch erhebt, das ‚Jüdische‘ an sich oder dessen Bedeutung für einzelne Lyriker:innen und Filmemacher:innen zu definieren. Im Zentrum stehen vielmehr transkulturelle Perspektiven auf und Beziehungen zu Identität und Vergegenwärtigungen bzw. Verortung im Raum (sowie Interaktion mit den darin befindlichen Objekten), die als ‚Portale‘ der Erinnerung fungieren, durch die sich die lyrischen Subjekte imaginativ bewegen.