Intime Zwischenräume
Zur Beziehung von Gegenwartslyrik und Neuer Musik
Zeitgenössische Lyrik und Neue Musik stehen im digitalen Zeitalter in einer engen Beziehung. Die Bandbreite von Kompositionen, die lyrischen Text und Musik miteinander verknüpfen, zeigen dabei unterschiedliche Zugangsweisen zur Verbindung von Wort und Ton auf, die bis dato nahezu unerforscht sind. Das interdisziplinäre Promotionsvorhaben möchte eben jene Forschungsfragen nach dem Zusammentreffen von Lyrik und Musik in der Gegenwart erstmals aufgreifen und wissenschaftlich fassen. Über musik-, literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven werden dazu die Interaktionsbewegungen zwischen Lyrik und Musik in aktuellen Vokalmusikkompositionen untersucht. Die These, dass zeitgenössische Lyrik und Neue Musik in ihrem Aufeinandertreffen ‚intime Zwischenräume‘ hervorbringen können, bildet den Ausgangspunkt für das Nachdenken über ihre kontemporären Begegnungsmöglichkeiten mit- und zueinander.
Durch das Aufgreifen und Weiterdenken von Forschungsansätzen zum Verhältnis von Wort und Ton in der Gattung des Kunstlieds wird eine erste theoretische Rahmenbildung entwickelt. In dieser kleinen Vokalmusikform ergeben sich durch die reduzierte Instrumentierung Stimme plus instrumentale Begleitung Spannungsverhältnisse, welche sich innerhalb der Wort-Ton-Struktur aufbauen und einen vielversprechenden Ansatz für die Erforschung von Fragen nach Momenten des intimen Zusammentreffens beider Künste in der Gegenwart ausbilden.
Mit der Einführung des Begriffs der Intimität wird eine aktualisierte Sichtweise auf gegenwärtige Beziehungsformen von Lyrik und Musik in zeitgenössischen Kompositionen vorgestellt und die in den Spannungsverhältnissen liegenden dialektischen Bewegungen zwischen Nähe und Ferne beider Künste multiperspektivisch erfasst. Intimität wird dafür vorerst mit zwei Bedeutungshorizonten belegt: einerseits in Verweis auf die etymologische Herleitung aus dem lat. Superlativ intimus (innerste, tiefste, vertrauteste) und den daran anknüpfenden philosophischen Reflexionen (Julia Kristeva, Josep Maria Esquirol). Andererseits in Abgleich mit verschiedenen Intimitätskonzepten seit 1900, wie etwa dem einer ‚intimen Ästhetik' (Marianne Streisand).
Das Forschungsziel begründet sich in dem Anliegen, das Aufeinandertreffen zwischen Lyrik und Musik im 21. Jahrhundert zu beschreiben und hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen im Feld der Neuen Musik vorzustellen und zu reflektieren. Ein besonderer Fokus wird auf der Erforschung der Relation zwischen Struktur und Inhalt des Textes und der musikalischen Komposition liegen – welche sich auf folgenden Ebenen erkennen lassen können: 1. textimmanente Spannungsverhältnisse, 2. musikimmanente Spannungsverhältnisse 3. Spannungsverhältnisse, welche sich aus dem Aufeinandertreffen von 1. und 2. ergeben – und Räume der Intimität entstehen lassen.
Gegenwärtig basiert das zu untersuchende Korpus auf zehn Kompositionen, die sich in Einzelwerke und Projektreihen gliedern. Diese Aufteilung ergibt sich aus der Tatsache, dass im Verlauf der letzten Jahre eine Reihe von Liedprojekten konzipiert worden sind, die aufgrund ihrer komplexen Anlage vielversprechende Analyseflächen bilden. In den Blick genommen werden Arbeiten von zeitgenössischen Komponist:innen, die (vorrangig deutschsprachige) Gegenwartslyrik für ihre Werke gewählt haben, darunter zum Beispiel anagramm von Isabel Mundry nach dem gleichnamigen Gedicht von Unica Zürn, Sich einstellender Sinn von Eres Holz nach einem Gedicht von Asmus Trautsch und wiedergutmachungsjude von Hector Docx nach einem Gedicht von Daniel Gerzenberg. Weiterhin werden Projektreihen, wie zum Beispiel Lieder für das Jetzt (2022) von Max Czollek und Daniel Gerzenberg untersucht oder das im Rahmen der Cresc… Biennale für aktuelle Musik stattgefundene Give us a poem (2023). In beiden Projektreihen wurden von jungen Künstler:innen Konzertabende auf Grundlage von Gedichten und anderen literarischen Texten entwickelt.