Posthumane Verflechtungen
Lyrik im Technozän
Im frühen 21. Jahrhundert geraten zwei globale Prozesse zunehmend in den Blick: die wissenschaftsbasierte Entwicklung von Technologien sowie die voranschreitende Klimakatastrophe. Dass diese Entwicklungen nicht getrennt ablaufen, sondern menschliche, technische und vermeintlich natürliche Prozesse im ‚Anthropozän‘ konstitutiv verflochten sind, gehört zu den grundlegenden Einsichten, die jüngst Anlass zu poetischen Auseinandersetzungen gegeben haben. Multimodale, also verschiedene Repräsentationsformen (z. B. textuelle, visuelle, akustische) kombinierende, deutsch- und englischsprachige lyrische Arbeiten der Gegenwart entwerfen das Zeitalter des Menschen zugleich als Technozän, Zeitalter der Technik, und visualisieren dabei bedeutsame materielle „Verflechtungen“ (entanglements, Haraway), auch jenseits des Menschen. Sie weisen zumeist Bezüge zu kritischen Theorien – posthuman, (öko-)feministisch und neumaterialistisch – auf, die auf eine Dezentrierung des ‚Anthropos‘ hinarbeiten und die Handlungsfähigkeit nicht-menschlicher Materie betonen.
Das ökokritisch orientierte Postdoc-Projekt erforscht diese multimodalen lyrischen Entwürfe der Verflochtenheit technischer, menschlicher und mehr-als-menschlicher agencies, etwa Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere. Zu diesem Zweck werden Gedichte in Büchern, digitale visuelle Lyrik sowie lyrische Installationen untersucht. Gefragt wird nach spielerischen, visionären und katastrophischen Entwürfen der Gegenwart und Zukunft des Technozäns. Wie werden menschliche und nicht-menschliche Körperlichkeit bzw. Materialität in der Lyrik verhandelt? Welche Sphären der intermateriellen Interaktion – z. B. die Tiefsee oder der Boden – werden inszeniert? Welche Rolle spielen Referenzen auf die visuelle Kultur, etwa auf die Climate- und Science-Fiction-Genres? Welches naturwissenschaftliche Wissen wird poetisch verarbeitet? Welche Reflexionen konkreter sozialer, ökonomischer und politischer Praktiken lassen sich vorfinden? Ebenso sind poetische und materielle Verfahren zur Dezentrierung des menschlichen Subjekts zugunsten anderer Handlungsträger:innen von besonderem Interesse, etwa durch „Co-Creative Writing“ (Bajohr) im Verbund mit KI oder tierlichen Akteur:innen.
Die Lyrik im Technozän fasst nicht nur die unauflösliche Verwobenheit von ‚natürlicher‘, ‚menschlicher‘ und ‚technischer‘ Sphäre sprachlich, sondern lässt sie visuell konkret sowie erfahrbar werden. Somit kommt ihr auch eine erkenntnisstiftende Funktion zu: Sie bringt komplexe Verflechtungen auf Mikro- und Makroebene sowie bestimmte Dimensionen des potentiell unbegreifbaren „Hyperobjects“ (Morton) Klimakatastrophe ins Bild und rückt sie somit in den Erfahrungshorizont der Rezipierenden. Daneben modelliert Lyrik alternative Visionen des „Miteinander-Werdens“ (becoming-with, Haraway) von Subjekten in „posthumanen Ökologien“ (Olsson) und kann potentiell utopische Kraft entfalten.
Der Fokus des Projekts auf technozäne Mensch-Technologie-‚Natur‘-Verhältnisse einerseits und multimodale Werke andererseits zielt auf eine Erweiterung des Untersuchungsfeldes der bereits einschlägig im Hinblick auf ihre buchlyrischen Darbietungsformen beschriebene „Lyrik im Anthropozän“ (Goodbody). Die Reflexion technischer agencies – sowohl auf diskursiver als auch auf materieller Ebene – und ihre Verflochtenheit mit anderen Handlungsträger:innen blieben jedoch bislang kaum berücksichtigt. Im Zentrum des Projekts stehen deutschsprachige lyrische Arbeiten, wobei englischsprachige vergleichend einbezogen werden.